Aufgaben und Schnittstellen in der primären und spezialisierten Palliativversorgung bei Duchenne-Muskeldystrophie - eine Patientenperspektive

Die Ergebnisse unseres Projektes „Aufgaben und Schnittstellen in der primären und spezialisierten Palliativversorgung bei Duchenne-Muskeldystrophie - eine Patientenperspektive“ wurden in der Zeitschrift "Neuromuscular disorders" veröffentlicht. Hier finden Sie eine deutschsprachige Zusammenfassung. Wir danken allen Teilnehmern sehr herzlich!

Anhand eines webbasierten Fragebogens wurden die aktuelle Situation, die Inanspruchnahme allgemeiner und spezialisierter Palliativ- und Hospizversorgungsstrukturen, mögliche Symptome und deren Behandlung sowie Meinungen und Einstellungen zu palliativen Themen erfasst.

Die internationalen Behandlungsempfehlungen für die Muskeldystrophie Duchenne (DMD) (Birnkrant et al. 2018) umfassen neben Diagnostik und medizinischer Behandlung auch Aspekte der Palliativversorgung. Palliativversorgung („Palliative care“) bezieht sich nicht ausschließlich auf die letzte Lebensphase, sondern beginnt als ergänzender Versorgungsansatz ab Diagnosestellung auf verschiedenen Ebenen. Die notwendige Versorgungsebene orientiert sich an den aktuellen Symptomen, Bedürfnissen und Therapiezielen. Die allgemeine Palliativversorgung umfasst z. B. die kontinuierliche Versorgung durch Haus- und Facharzte, multiprofessionelle Strukturen wie Sozialpädiatrische und Neuromuskuläre Zentren oder Krankenhäuser. Die spezialisierte Palliativversorgung wird von entsprechend qualifizierten Versorgern geleistet, wenn ein komplexer Versorgungsaufwand mit einer hohen Symptomlast vorliegt und die allgemeine Palliativversorgung nicht ausreicht. Sie umfasst Teams der Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV), Palliativstationen, ambulante Hospizdienste und stationäre Hospize. Die genannten Angebote gibt es (fast) bundesweit jeweils für Kinder/Jugendliche und für Erwachsene.

Der Stand der Palliativversorgung bei Kindern und jungen Erwachsenen mit DMD in Deutschland wurde mit quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden vom Sächsischen Kinderpalliativzentrum und der Abteilung Neuropädiatrie am Universitätsklinikum der Technischen Universität Dresden untersucht. Zunächst wurde eine kleine Gruppe an Patienten und/oder ihre Familien aus verschiedenen Muskelzentren in teilstrukturierten Interviews befragt. Basierend auf diesen Ergebnissen wurde ein umfassender Fragebogen entwickelt, der von 11/2017 bis 02/2018 online verfügbar war und insbesondere von Teilnehmern des DMD-Patientenregisters beantwortet wurde.

Mit der Online-Befragung wurde erfasst, auf welchen Ebenen die Palliativversorgung in Deutschland geleistet wird, wie die gesundheitliche Situation ist und wie „palliative“ Themenfelder bewertet werden. Die folgende Zusammenfassung gibt einen Einblick in die Untersuchungsergebnisse. An der Befragung beteiligten sich 150 Patienten.

  • Im Mittel waren die Patienten 19,8 Jahre alt (18-47 Jahre); dabei waren 50% jünger und 50% älter als 18 Jahre.
  • Die Teilnehmer kamen aus beinahe allen Bundesländern, sowohl aus dem ländlichen Raum als auch aus Städten.
  • Bei 13% der Befragten war das Laufen noch möglich (Stadium der späten gehfähigen Phase), 23% waren nicht mehr gehfähig bei erhaltener Arm- und Handfunktion (frühe Phase des Gehverlusts) und 64% waren nicht mehr gehfähig und hatten auch die Armfunktion verloren (späte Phase des Gehverlusts).
  • Zwei Drittel der Befragten hatten den Pflegegrad 4 bzw. 5; die Mehrheit (79%) wohnte bei den Eltern, die sehr häufig allein die pflegerische Versorgung übernahmen. Die verbleibenden Befragten lebten z.B. in eigenen Wohnungen oder stationären Einrichtungen.

Die allgemeine Palliativversorgung erfolgte vorrangig durch Kinder- sowie Hausärzte und in multiprofessionellen Strukturen, ergänzt durch geplante und ungeplante Krankenhausaufenthalte.

  • Vier von fünf Patienten wurden von Pädiatern (45%) oder Allgemeinmedizinern (37%) betreut, 25% der Patienten über 18 Jahre wurde von Kinderärzten weiterbehandelt, der Wechsel zu Hausärzten (Transition) gelang verspätet oder gar nicht.
  • Kindern und Jugendlichen wurden zu 92% in Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) oder Neuromuskulären Zentren (NMZ) betreut. Mit dem Erwachsenwerden erfolgten viele Behandlungsabbrüche, so dass nach dem 18. Lebensjahr nur noch 45% der Patienten eine multiprofessionelle Versorgung erhielten. Medizinische Zentren für erwachsene Menschen mit Behinderung (MZEB) spielten mit einer Inanspruchnahme von 2% eine untergeordnete Rolle in der Versorgung der Erwachsenen mit DMD.
  • Bei 55% der Befragten erfolgten elektive (geplante) Krankenhausaufnahmen im Beobachtungszeitraum, vorrangig aufgrund von Routineuntersuchungen (60%) oder geplanten Operationen (32%). Im Mittel hatten die Patienten 2,4 geplante stationäre Aufenthalte im Zeitfenster von zwei Jahren.
  • Bei 32% der Patienten erfolgten ungeplante, akute stationäre Aufnahmen, vor allem aufgrund einer respiratorischer Insuffizienz (43%) oder Frakturen (25%). Im Mittel hatten die Patienten 1,6 akute Krankenhausaufenthalte im Zeitfenster von zwei Jahren. 
  • Bei 17% der Patienten erfolgten sowohl elektive als auch akute stationäre Aufnahmen 
  • Anders als erwartet gab es keinen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen Alter und der Anzahl der elektiven bzw. ungeplanten Krankenhausaufnahmen.

Die Mehrheit der Befragten gab Symptome wie Schmerzen, Fatigue, Depression, Obstipation und Dyspnoe an, die nach Einschätzung der Befragten zu einem Teil nicht bzw. nicht zufriedenstellend behandelt wurden.

  • Folgende Symptome traten täglich, mehrmals wöchentlich oder mehrmals pro Monat auf: Schmerz bei 57% der Befragten, Fatigue bei 43%, Depression bei 30%, Obstipation bei 24% und Dyspnoe bei 7%.
  • Eine Behandlung der genannten Symptome erfolgte in unterschiedlichem Umfang. Schmerzen wurden bei 56%, die Fatigue bei 27%, die Depression bei 44 %, Obstipation bei 64% und Dyspnoe bei 90% der Befragten behandelt.
  • Zur Qualität der Symptombehandlung gab es folgende Angaben: Bei Schmerzen erhielten 71% der Befragten keine bzw. nach ihrer Einschätzung keine zufriedenstellende Behandlung. Bei der Fatigue lag der Wert bei 84%, bei der Depression bei 73%, bei der Obstipation bei 56% und bei der Dyspnoe bei 40%. Diese Zahlen weisen auf Versorgungslücken hin.

Das Angebot einer Spezialisierten Palliativversorgung war nur begrenzt bekannt und wurde wenig in Anspruch genommen Die Kommunikation zu den Themen Sterben und Tod fiel den Befragten schwer. Gleichzeitig hatten viele der Patienten den Wunsch, im Voraus zu besprechen, welche Behandlungen beim allmählicher oder plötzlicher Verschlechterung des Gesundheitszustandes gemacht werden sollen oder möglich wären (Prinzip des „advanced care planning“).

  • Die Angebote der spezialisierten Palliativversorgung war nur zwei Dritteln der Befragten bekannt und wurde von nur jedem zehnten genutzt.
  • Zu Themen der Palliativversorgung gab es folgende Antworten: Die Befragten fühlten sich in aller Regel sehr gut zum Krankheitsverlauf informiert und bei anstehenden Entscheidungsprozessen eingebunden. Kritischer wurde die (nicht) erhaltene emotionale Unterstützung betrachtet. Die Themen „Sterben und Tod“ wurden kaum besprochen, weder mit Ärzten noch mit der Familie oder dem Freundeskreis. Gleichzeitig bestand bei vielen der Wunsch, Behandlungsentscheidungen im Voraus zu besprechen.

Menschen mit einer DMD haben Anspruch auf spezialisierte Palliativ- und Hospizversorgung. Die Auswertung der Interviews und von 150 Fragebögen ergab Bedarfe an folgenden Kompetenzen der spezialisierten Palliativversorgung: Symptommanagement, Krisenintervention, Familiäre Entlastung, Koordination, Unterstützung bei Krankenhausaufenthalten und Gespräche über Sterben und Tod sowie Versorgung am Lebensende.

  • Symptommanagement: Die Datenanalyse ergab einen hohen Bedarf beim Symptommanagement. SAPV-Teams oder Palliativstationen könnten mit ihrer multiprofessionellen Stärke und fachlichen Expertise leidvolle Symptome der Patienten und ihrer Familien behandeln.
  • Krisenintervention: Bei vielen Patienten gab es akute Notfalleinweisungen in Krankenhäuser. SAPV-Teams, die eine 24-Stunden-Rufbereitschaft anbieten, könnten durch Intervention im häuslichen Setting einen Teil der stationären (Notfall-) Einweisungen verhindern.
  • Familiäre Entlastung: Ambulante Kinder- und Jugendhospizdienste ermöglichen eine stundenweise Entlastung der Eltern, indem sie für die Patienten oder für die Geschwister da sind. Stationäre Kinder- und Jugendhospize bieten eine kostenfreie tage- und wochenweise Entlastung der hauptversorgenden Familie, indem entweder die gesamte Familie oder die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen allein in den umfassend ausgestatteten Häusern (Urlaubs-) Zeit verbringen, pflegerisch entlastet werden und in Kontakt zu Gleichbetroffenen kommen.
  • Koordination: Aufgabe von SAPV-Teams ist u.a. die Koordination und Vernetzung, besonders in komplexen Situationen. Dies umfasst die Vermittlung von Entlastung, den Einbezug von notwendigen Versorgern oder Hilfsmitteln und die Unterstützung bei der Transition in die Erwachsenenmedizin.
  • Unterstützung bei Krankenhausaufenthalten: Krankenhausaufenthalte stellen nicht selten Meilensteine im Krankheitsprogress dar, in denen Therapieziele besprochen und richtungsweisende Entscheidungen getroffen werden müssen. Palliativversorger können mit ihrer kommunikativen Kompetenz und Vernetzung dabei unterstützen und die Überleitung in die ambulante Versorgung mit planen und organisieren.
  • Gespräche über Sterben und Tod und die Versorgung am Lebensende: Im Vorfeld geführte Therapiezielgespräche geben Halt und Sicherheit in Notfallsituationen und nehmen Druck von den Patienten und erstbehandelnden Ärzten. Palliativversorger sind in dieser Gesprächsführung besonders geschult. Zudem begleiten sie am Lebensende und bieten Trauerbegleitung an.

Im Ergebnis wird ein kollaboratives Versorgungsmodell, in welchem die allgemeine und spezialisierte Palliativversorgung integriert werden, befürwortet. Die Integration von Palliative Care zu einer Verbesserung der Lebensqualität und einer Lebenszeitverlängerung führt.

  • Menschen mit lebenslimitierenden Erkrankungen profitieren von einer guten Symptomkontrolle, dem Einbezug psychosozialer Aspekte, multiprofessioneller Behandlung und davon, die Situation für den Patienten und dessen Angehörige verständlich und bewältigbar zu machen. Spezialisierte Palliativversorgung kann dies ergänzend zu den Allgemeinversorgern in besonderer Weise leisten.
  • Durch die frühzeitige intermittierende Einbindung spezialisierter Palliativversorger können Berührungsängste auf Patienten- und Familienseite abgebaut und die begrenzte Sicht auf Palliativversorgung als ausschließliche „End-of-Life-Care“ aufgehoben werden.